Offener Brief „…und maß dem Leben der Flüchtenden geringere Bedeutung bei als dem Ziel der Fluchtverhinderung.“ 17. Juli 202417. Juli 2024 In der Reihe „Heute nichts gespielt“, der politisch-nachhaltigen Talkshow am Theater Freiburg, ist für den 19. Juli ein Auftritt von Egon Krenz angekündigt. Nachdem Stadtrat Timothy Simms vergangene Woche im Theaterausschuss kritisch nachfragte (siehe die Berichte von BZ und Radio Dreyeckland), fasst Stadtrat Lars Petersen die Kritik nun in einem Offenen Brief an Oberbürgermeister Martin Horn zusammen. Talkshow „Heute nichts gespielt mit Egon Krenz“ am 19.07.2024 im Wintererfoyer des Theaters Freiburg Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,lieber Martin, Peter Fechter war 18 Jahre alt, als er am 17. August 1962 beim Versuch, die Berliner Mauer zu überwinden, von Grenzsoldaten der DDR erschossen wurde. Chris Gueffroy war das letzte Todesopfer an der Berliner Mauer, das durch den Einsatz von Schusswaffen ums Leben kam. Am 05. Februar 1989, nur 9 Monate vor der Maueröffnung. Egon Rudi Ernst Krenz hingegen, seit 1955 SED-Mitglied, wurde bereits 1983 in das Politbüro des ZKs der SED berufen, war vom 18. Oktober bis zum 3. Dezember 1989 als Nachfolger Erich Honeckers Generalsekretär des ZKs der SED sowie ab 24. Oktober bis zum 6. Dezember Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. Er äußerte sich zum „Schießbefehl“, dessen Existenz er übrigens zuvor viele Jahre bestritten hatte, wie folgt: „Es gab sogar mal den Befehl, dass Grenzverletzer zu vernichten sind. Das hieß aber nicht, dass sie getötet werden sollten.“ Egon Rudi Ernst Krenz wurde durch das Landgericht Berlin 1997 wegen Totschlags in vier Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das Landge-richt Berlin hat unter anderem folgende Feststellungen getroffen: „Der Angeklagte Krenz strebte stets die Unüberwindbarkeit der innerdeutschen Grenze an. Zwar war es ihm von Beginn seiner Tätigkeit als Sekretär des Zentralkomitees und Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats und des Politbüros ein Anliegen, die Grenzsicherungsanlagen so zu gestalten, dass es möglichst nicht zum Schusswaffeneinsatz gegenüber Flüchtlingen zu kommen brauchte. Gleichwohl nahm er im Tatzeitraum den nicht erstrebten, stets als möglich erkannten tödlichen Erfolg der von ihm mitgestalteten Grenzsicherung billigend in Kauf und maß dem Leben der Flüchtenden geringere Bedeutung bei als dem Ziel der Fluchtverhinderung.“ Ich wiederhole: „…und maß dem Leben der Flüchtenden geringere Bedeutung bei als dem Ziel der Fluchtverhinderung.“ Nun gibt es seit einigen Jahren im Theater Freiburg eine Talkshow-Reihe mit dem Titel „Heute nichts gespielt“. Zahlreiche renommierte PolitikerInnen durften sich als „illustre Gäste“ fühlen und eine „gemütliche Wohnzimmer-Atmosphäre“ genießen. Und am 19.07.2024 darf sich nun Egon Rudi Ernst Krenz im Wohnzimmer des Theaters Freiburg wohlfühlen. Der Egon Rudi Ernst Krenz, der „dem Leben der Flüchtenden geringere Bedeutung“ beimaß, „als dem Ziel der Fluchtverhinderung“. Ich kann das, in der angekündigten Formatreihe und mit dem üblichen Setting dieser Talkshow, nur mit Entsetzen zur Kenntnis nehmen. Es ist unverantwortlich, einem maßgeblichen Protagonisten des DDR-Unrechtsregimes, der wegen schwerster Straftaten verurteilt worden ist und der große Schuld auf sich geladen hat, ein Podium zu bieten, mehr oder weniger unkommentiert seine Sicht der Dinge, vom Theater Freiburg als „Einblicke in das Leben des einstigen Staatsmannes“ verbrämt, zum Besten geben – und ihn anschließend womöglich noch Bücher signieren zu lassen. Die Verortung von Egon Krenz in dieser Talkshowreihe stellt einen führenden Vertreter einer Ein-Parteien-Diktatur in eine Reihe mit demokratisch gewählten Politikern – eine mehr als verharmlosende Gleichsetzung und ein Schlag ins Gesicht der Opfer der SED-Diktatur. Das Theater Freiburg hat offenbar versucht, die im jüngsten Theaterausschuss geäußerten Bedenken über die geplante Veranstaltung zu berücksichtigen. Mit Henry Meyer (1963), einem Angehörigen des Freiburger Ensembles, soll Herrn Krenz kurzfristig ein „Wende-Zeitzeuge“ und „kritischer Zeitgenosse“ zur Seite gestellt werden. Dies scheint mir – ohne Herrn Meyer nahetreten zu wollen – erkennbar unzureichend zu sein. „Gelebte Erfahrung“, wie vom Theater Freiburg gewünscht, UND historische Expertise müssen sich nicht ausschließen. Der von mir bereits vorgeschlagene Historiker Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk, (1967, Ost-Berlin), der die Biographie von Herrn Krenz umfassend rezensiert hat, mag – pars pro toto – als Beispiel für geeignete Teilnehmer an einer Talkshow zum Thema DDR dienen – wenn es denn angesichts dieses Gastes und der anzusprechenden Themen überhaupt ein Talkshow-Format sein muss. Dass das Theater Freiburg aber gar einen „HistorikerInnenstreit“ befürchtet und schon deshalb lieber am gemütlichen Wohnzimmer-Format für einen Ex-Diktator festhalten will, zeigt leider nur, dass man sich dort der Außenwirkung einer derartigen Veranstaltung nicht mit der nötigen Sensibilität bewusst ist. Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Martin, Du warst selbst Gast in der genannten Talkshow. Ich war da. Es war ein kurzweiliger Abend, der mir in guter Erinnerung geblieben ist. Aber dieses Talkshow-Format für den jahrzehntelangen maßgeblichen Mitverantwortlichen eines Unrechtsregimes, der wegen Totschlags vorbestraft ist? Ohne einen ernsthaften Diskussionspartner? Das ist einer weltoffenen, liberalen, geschichtsbewussten, rechtsstaatlichen und bürgerinnenfreundlichen Stadt wie Freiburg unwürdig. Und nicht zuletzt: möchtest Du mit Egon Krenz in einer Reihe als Gast dieser Talkshow genannt werden? Die Kunstfreiheit ist ein hohes Gut und eine Einmischung in den Theaterspielplan sollte sich eigentlich verbieten. Künstlerische und inhaltliche Argumente, weshalb diese Veranstaltung in der beabsichtigten Form gerade jetzt stattfinden soll, vermag ich allerdings nicht zu erkennen. Ich möchte Dich deshalb dringend bitten, darauf hinzuwirken, dass die Veranstaltung mit Herrn Krenz am 19.07.2024 im Winterer-Foyer des Theaters Freiburg abgesagt wird – in stillem Gedenken an Peter Fechter, Chris Gueffroy und die anderen, mindestens 138 an der Mauer getöteten Menschen. Beste Grüße, Lars PetersenStadtrat
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