Biodiversität: „Wir erleben gerade das größte Massensterben seit dem Verschwinden der Dinosaurier“ 14. November 201821. September 2020 Das größte Problem beim Artenschutz ist das mangelnde Interesse der Menschen. Egal welche Zeitung man zurzeit öffnet, die Warnungen springen einem entgegen. Nur zu Handlungen scheint niemand freiwillig bereit. Deshalb haben wir abgeleitet aus dem Maßnahmenkatalog der Stadtverwaltung einen Antrag erarbeitet, den unsere Fraktionsvorsitzende im Folgenden erläutert: Rede von Stadträtin Maria Viethen zu Tagesordnungspunkt 4 der Gemeinderatssitzung vom 13.11.2018: Fraktionsvorsitzende Maria Viethen (Bild: Britt Schilling) Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren! Reisen bildet. Wer derzeit mit der Bahn reist – und das habe ich vor 10 Tagen getan – findet im kostenlosen Fahrgastmagazin „Mobil“ der Deutschen Bahn 84 Seiten zum Schwerpunkt „Artenschutz“. Das beginnt mit einem ausführlichen Interview mit Dirk Steffens, einem offenbar sehr bekannten Tierfilmer, der mit seinen Vorträgen zum Artenschutz große Säle füllt und im Fernsehen die Reihe „Terra X“ moderiert. Zusammengefasst sagt Herr Steffens folgendes: Wir erleben gerade das größte Massensterben seit dem Verschwinden der Dinosaurier… Was wir bemerken, sind tatsächlich erst die Anfänge – zum Beispiel wenn wir weniger Insekten von der Windschutzscheibe kratzen als noch von 20 Jahren. Erdhistorisch betrachtet verläuft das aktuelle Artensterben rasend schnell, aus der Perspektive eines Menschen jedoch ziemlich langsam. An 2050 denken wir selten…. Eines der großen Missverständnisse beim Artenschutz ist, dass die meisten an die wenigen ikonischen Arten denken, die vom Aussterben bedroht sind – der Eisbär, die Pandas, der Oran-Utang. Aber wenn diese Tiere aussterben, hat das für uns Menschen keine Auswirkungen. Es sterben zum größten Teil Arten aus, die wir weder kennen noch wahrnehmen. Es müssen viele Lebewesen zusammenarbeiten, damit Ökosysteme so funktionieren, wie wir sie kennen. Damit Ackerboden überhaupt fruchtbar wird, müssen Myriaden von Kleinstlebewesen gemeinsam wirken. Wir merken erst, wie wichtig diese unscheinbaren Wesen sind, wenn sie weg sind – weil das Korn nicht mehr sprießt oder weil wir keine Äpfel mehr ernten. Der Verlust von Biodiversität könnte auf lange Sicht bedeuten, dass wir nichts mehr zu essen haben. Und: Das größte Problem beim Artenschutz ist das mangelnde Interesse der Menschen. Soweit das Interview mit Herrn Steffens. Die Grüne Fraktion hat im Oktober des letzten Jahres beantragt, den aktuellen Sachstand zum Thema Artenschutz und Biodiversität in Freiburg mit Schwerpunkt Insekten und Vögel auf die Tagesordnung des Gemeinderates setzen zu lassen, und die bisherigen Bemühungen sowie konkrete zusätzliche Maßnahmen gegen das Artensterben darzustellen. Für die heute diskutierte Vorlage bedanke ich mich ausdrücklich bei Herrn Dr. Schaich, dem Leiter der Abteilung Umweltplanung, Landschaftsökologie und Naturschutz im Umweltschutzamt, und seinen MitarbeiterInnen. Die Verwaltung beweist mit der Vorlage eindrucksvoll, dass das Thema Biodiversität sehr ernst genommen wird. Die Mitglieder des Umweltausschusses waren ziemlich geschockt, als Herr Dr. Schaich, uns dann im Juni dieses Jahres bei der Vorstellung der Vorlage auf einigen Folien den Rückgang der Arten bei Insekten und Vögeln sehr anschaulich vorgestellt hat. Besonders beeindruckend ist eine Krefelder Studie, nach der im Zeitraum 1990 bis 2017 die Biomasse bei Insekten um 76% zurückgegangen ist. Ein Ausschussmitglied, möglicherweise war es auch Herr Dr. Schaich selbst, überschlug dann, dass wir noch 6 Jahre Zeit haben, bis alle Insektenarten verschwunden sind, wenn es in dem Tempo weitergehen würde. Nun weiß ich natürlich aus den folgenden Diskussionen, vor allem mit VertreterInnen der Landwirtschaft, dass diese Studie heftig kritisiert wird wegen angeblicher oder tatsächlicher methodischer Fehler. Mag sein. Aber wenn diese Studie nur zu 50% zutreffen würde, wäre der Befund schon äußerst alarmierend. An der generellen Tendenz ändert auch nichts die Tatsache, dass in manchen Biotopen wieder vermehrt bedrohte Schmetterlingsarten gesichtet werden, dass es gelungen ist, den Wiedehopf wieder ansässig zu machen oder das vereinzelt wieder Lebensräume für Lerchenbrutpaare geschaffen wurden. Das Problem liegt auf einer ganz anderen Ebene. Ich habe zusammen mit den beiden anderen Mitgliedern der grünen Fraktion den Empfehlungskatalog der Verwaltung durchgesehen und versucht, die dort angedachten Maßnahmen zu konkretisieren und daraus Beschlüsse für den Gemeinderat zu formulieren. Wie viele detailreiche Anträge der Grünen hätte auch dieser liebevoll gezimmerte Antrag wohl kaum Aufsehen erregt, wenn nicht energischer Protest aus Richtung der Landwirtschaft das Thema urplötzlich auf die öffentliche Agenda katapultiert hätte. Die BI „Pro Landwirtschaft und Wald in Freiburg Dietenbach & Regio“ titelte: „Bündnis 90/Die Grünen fordern Todesstoß für Freiburger Landwirte“. Was war passiert? In Ziff. 2 unseres Antrags hatten wir gefordert, bei Neuverpachtung von landwirtschaftlichen Nutzflächen im Eigentum der Stadt in Zukunft biologisch zertifizierte Betriebe zu bevorzugen und in neu abzuschließende Pachtverträge ein Verwendungsverbot für chemisch-synthetische Pestizide aufzunehmen. Und auch in bestehende Pachtverträge der Stadt über landwirtschaftliche Flächen soll bis zum 01.11.2023, also bis in fünf Jahren (!) ein solches Pestizid-Verbot aufgenommen werden. Neben einer Reihe von weiteren Maßnahmen, die überhaupt nicht strittig sind, wie etwa die Ausweisung des Naturschutzgebietes Schangen-Dierloch, die Umsetzung von mehr Dachbegrünung und Fassadenbegrünung oder das Pilot-Projekt einer „Bio-Tankstelle“ für Elektrofahrzeuge mit Kollektoren auf dem Dach bei gleichzeitiger insektenfreundlicher Bepflanzung, wollen wir also einen verbindlichen Fahrplan, um tatsächlich in der Frage der Pestizid-Verwendung weiterzukommen. Dieser Fahrplan mit einem festen Endtermin für die Verwendung von Pestiziden auf verpachteten landwirtschaftlichen Flächen der Stadt ist keine völlig abseitige Idee der Grünen. Vielmehr fordert der NABU Baden-Württemberg in seinem Pestizidbericht vom März dieses Jahres von der Landesregierung, bei der Bewirtschaftung und Verpachtung der 33.000 Hektar landeseigener landwirtschaftlich genutzter Flächen einen Ausstieg aus dem Einsatz von chemisch synthetischen Pestiziden einzuleiten. Unsere Fraktion hat im Dezember 2017 also vor nicht mal einem Jahr, ein Schreiben des Landesnaturschutzverbandes Baden-Württemberg e.V zu diesem Thema erhalten. Es handelt sich dabei um einen Zusammenschluss der Umweltverbände im Land. Mit diesem Schreiben wurde von uns als Handlungsoption im Hinblick auf das Insektensterben ausdrücklich gefordert, kommunale landwirtschaftlich Nutzflächen zukünftig ausschließlich an ökologisch zertifizierte und wirtschaftende Betriebe zu verpachten. Interessanterweise war dieses Schreiben auch vom NABU Freiburg unterschrieben, der nunmehr im Verein mit den Landwirten auf Dietenbach der grünen Fraktion vorwirft, sie versetze mit dem nunmehrigen Antrag der Freiburger Landwirtschaft den Todesstoß. Mittlerweile habe ich viel diskutiert und viel gelernt. Beispielsweise, dass dieser Vorgang in eine viel größere Diskussion hineinstößt, in der sich die Landwirtschaft unverschuldet in eine Verteidigungsposition gedrängt sieht, was viele BetriebsinhaberInnen empört. Ich habe viel gelernt über Bio-Siegel und die verschiedene Arten von Pestiziden. Oder dass die Landwirtschaft hier in Südbaden besonders strukturiert ist, weil es hier keine riesigen Agrarfabriken gibt, sondern die Landwirtschaft im Gegenteil kleinteilige Struktur mit lauter selbstständigen landschaftlichen Betrieben aufweist. Ich habe auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass unser Antrag sozusagen ohne Vorankündigung in eine Diskussion der Umweltverwaltung mit einigen landwirtschaftlichen Betrieben hier vor Ort gestoßen ist, über freiwillige Maßnahmen zum Artenschutz, wie Blühstreifen an Ackerrändern, Brutfenster für Vögel und Ähnliches. In den Diskussionen habe ich einige Landwirte kennen gelernt, die das Thema Biodiversität ernsthaft angehen. Die Verwaltung, das haben wir gestern im Umweltausschuss wieder gehört, setzt in puncto Pestizid-Verwendung eher auf Freiwilligkeit und möchte die Landwirte auf einen festen Zeitpunkt für den Verzicht auf Pestizide nicht festlegen. Ich möchte dazu festhalten, dass es überhaupt nicht die Absicht meiner Fraktion war, eine offenbar viel versprechende Diskussion zwischen der Umweltverwaltung und einigen Landwirten zu torpedieren. Ich verstehe allerdings bis heute nicht so ganz, weshalb unser Anliegen, einen festen Fahrplan zu installieren, bei Betrieben auf Unverständnis stößt, die ohnehin schon freiwillig auf dem Weg zu einer ökologisch bewussten Landbewirtschaftung sind. In den vielen Diskussionen, die ich geführt habe, teilweise auch öffentlich, habe ich jedoch, mit Verlaub, nicht den Eindruck erhalten, dass die Landwirtschaft in ihrer Gesamtheit tatsächlich zu einem Umdenken bereit ist zu. Es ging dann stets darum darzustellen, weshalb die Forderung der Grünen unsinnig ist, weshalb ein Pestizidverbot nicht machbar ist, oder weshalb vorsichtig konventionelle Bewirtschaftung besser ist als biologisch zertifizierte. Eine klare Beschreibung des Ziels und wie man dorthin kommen will, vermisse ich bis heute. Die Formulierung solcher Ziele ist Aufgabe der Politik. Vielleicht ist das Beispiel nicht ganz passend, aber wenn man sich die Diskussion über den sogenannten Diesel-Skandal ansieht, so denke ich, dass es sich hier schlicht um Politikversagen gehandelt hat. Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen zu setzen, in denen die Wirtschaft agiert. Genau deshalb ist es auch die Aufgabe des Freiburger Gemeinderates, Ziele zu formulieren im Hinblick auf Maßnahmen zum Erhalt der Biodiversität. Nach meiner Auffassung gehört eine feste zeitliche Zielmarke für den Verzicht auf die Verwendung chemisch-synthetische Pestizide zwingend dazu. Chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel beeinträchtigen nicht nur die Existenz und den Lebensraum von Insekten und Vögeln, sondern gefährden über den Kontakt mit Pflanzen, den Verzehr von Lebensmitteln und über das Grundwasser Menschen direkt. Es gibt Untersuchungen, wonach beispielsweise Glyphosatbelastungen deutlich über den Grenzwerten in der Muttermilch nachgewiesen wurden. Das, was wir mit unserem Antrag vorschlagen ist ein winzig kleiner Schritt auf dem Weg, den wir miteinander gehen müssen. Wir haben nun, um die berechtigten Anliegen der landwirtschaftlichen Betriebe Rechnung zu tragen, unter Ziff. 2.4 einen Zusatzantrag formuliert. Darin wird die Verwaltung gebeten, in Zusammenarbeit mit den Pächterinnen und Pächtern landwirtschaftlich genutzter Grundstücke der Stadt ein Konzept zu erarbeiten, das die Umsetzung unseres des vorgeschlagenen Fahrplanes bis 2023 ohne Gefährdung der wirtschaftlichen Grundlagen der betroffenen Betriebe sicherstellt. Wir wollen der Umweltverwaltung dabei freie Hand lassen und bitten lediglich um Prüfung einer Reihe von Maßnahmen. Etwa ein vernünftiges Flächenmanagement, weil des Öfteren Klage geführt wird darüber, dass die verpachteten Flächen sehr kleinteilig sind. Wichtig finde ich insbesondere auch einen jährlichen Bericht im Umweltausschuss über den Sachstand der Umsetzung und die Einrichtung eines direkten Kontaktes zwischen Landwirtinnen und Landwirten und den Mitgliedern des Umweltausschusses. Unseren Feststellungen nach gibt es einfach zu wenig Kommunikation zwischen Politik und Landwirtschaft. Gleichgültig wie die Abstimmung ausgeht, kann ich zusichern, dass das Thema meine Fraktion und mich weiter beschäftigen wird. Die regionale Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln und eine gesunde Ernährung sind grundlegende Fragen, die wir weiter bearbeiten werden. Ich sichere auch zu, dass wir weiter im Gespräch bleiben werden mit der regionalen Landwirtschaft. Wir wollen mit anderen AkteurInnen, beispielsweise dem Freiburger Ernährungsrat, eine starke Bewegung in der Region auf den Weg bringen, um für die hiesige Landwirtschaft verlässliche Absatzstrukturen, insbesondere für Bioprodukte, und faire Preise zu erreichen.
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