„Demokratie und Rechtsstaat“ 31. Juli 202328. Juli 2023 Grußwort und Gedenkrede von Stadtrat Lars Petersen bei der Gedenkfeier für die Kämpfer für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte von 1848/49. Stadtrat Lars Petersen (Bild: Britt Schilling) Eine junge Chinesin berichtete vor kurzem der Süddeutschen Zeitung, sie sei in der 2. Klasse gewesen, als die Bulldozer das Haus ihrer Großeltern einfach niedergerissen hätten, weil es einer neuen Eisenbahnlinie im Weg gestanden hätte. Zwar habe ihr Großvater eine kleine Entschädigung erhalten, sie habe aber ihr Vertrauen in den „Rechtsstaat“ verloren. In China. Wir sind uns sicher schnell einig, dass nach unseren Maßstäben China schwerlich als Rechtsstaat angesehen werden kann – wenngleich man dort gerne eine »sozialistische Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung“ etablieren möchte, den Begriff selbst also auch gern im Munde führt. Was macht aber einen Rechtsstaat westlicher Prägung aus? Schauen wir einmal in unsere europäische Nachbarschaft: In Polen versucht die Regierung, Presse und Justiz unter ihre direkte Kontrolle zu bringen und deren Unabhängigkeit auszuhöhlen. So wurde 2018 eine „Disziplinarkammer“ eingesetzt, die jeden Richter oder Staatsanwalt entlassen konnte. Die Kammer wurde zwar Anfang Juni 2022 wieder aufgelöst, man diskutiert in Polen allerdings schon wieder die Einführung einer „Kammer für berufliche Verantwortung“. In Ungarn konnten durch die Reduktion des Pensionsalters von Richtern, Staatsanwälten und Notaren 236 leitende Richterstellen neubesetzt werden – sicher nicht mit Orban-Kritikern. Gleichzeitig wurde eine regierungstreu besetzte Medienbehörde eingeführt, die unter dem Vorwand der „Politischen Ausgewogenheit“ regierungskritische Medien sanktionieren kann. In Israel verfolgt die Regierung mit ihrer Justizreform das Ziel, dem Parlament zu ermöglichen, mit einer einfachen Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufzuheben. Damit würde dessen Befugnis zur rechtlichen Überprüfung von Gesetzen fast vollständig abgeschafft werden. Zudem sollen Politikerinnen und Politiker bei der Ernennung von Richtern mehr Einfluss erhalten. Angesichts der jüngsten Entwicklung scheint die Regierung am Ziel zu sein. In allen genannten Fällen sehen wir den „Rechtsstaat in Gefahr“. Aber was haben diese Beispiele gemeinsam? Es geht gegen die Justiz, gegen die Unabhängigkeit der Richter, gegen die Gewaltenteilung und gegen eine freie Presse – offensichtlich die ersten Ziele, wenn sich Regierungsparteien mit großen, ggf. auch absoluten parlamentarischen Mehrheiten einen demokratisch-rechtsstaatlichen verfassten Staat nach ihren Vorstellungen „umbauen“ möchten. Erlauben Sie mir, wegen der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit – und aus eigener Betroffenheit – nur zwei Punkte davon näher zu beleuchten: Zunächst zur richterlichen Unabhängigkeit: Art. 97 Abs. 1 GG lautet: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“ Ähnlich § 25 des Deutschen Richtergesetzes: „Der Richter ist unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“ Wieso vom GG zum Deutschen Richtergesetz aus Plural plötzlich Singular wird – ich weiß es nicht. Die richterliche Unabhängigkeit ist das grundlegende Merkmal einer rechtsstaatlichen Rechtspflege, also der Anwendung des Rechts auf den Einzelfall. Nur die richterliche Unabhängigkeit garantiert die für einen Rechtsstaat unerlässliche Gewaltenteilung und stellt sicher, dass der rechtsunterworfene Bürger sich einem neutralen Richter gegenübersieht. Dabei besteht die richterliche Unabhängigkeit im Interesse der Rechtssuchenden, sie ist also kein Grundrecht oder gar eine Art „Standesprivileg“ der Richter, werktags um 10:00 Tennis spielen zu können – um gleich mal das schönste Klischee hier abzuräumen. Innerhalb der richterlichen Unabhängigkeit unterscheidet man die sachliche Unabhängigkeit und die persönliche Unabhängigkeit. Letztere bedeutet, dass ein Richter gegen seinen Willen in der Regel nicht aus seinem Amt entlassen oder versetzt werden kann – so steht auf meiner Ernennungsurkunde „Hiermit ernenne ich Lars Petersen zum Richter am Amtsgericht Freiburg.“ Gegen meinen Willen bekommt man mich hier also nicht weg. Spannender ist die sachliche Unabhängigkeit: Sie bedeutet die Freiheit von Weisungen. Dabei ist Weisung im weitesten Sinne zu verstehen: jede Art von Einflussnahme ist unzulässig. Weder meine Gerichtspräsidentin Frau Wahle noch unsere Justizministerin Frau Gentges kann mir eine Anweisung geben, wie ich einen bestimmten Fall zu entscheiden habe. Sie werden den Fall eines Kollegen aus Freiburg in der Presse verfolgt haben, dem die Präsidentin des Oberlandesgerichts Karlsruhe vorgehalten hat, regelmäßig weniger Fälle zu erledigen, als der „Durchschnittskollege“ seines Gerichts. Ist also ein – natürlich stilvoller formuliertes – „jetzt hau mal einen Schlag ´rein“ bereits ein Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit? Die Meinungen darüber sind geteilt. Und ist es nicht eigentlich ein Verstoß – und damit komme ich zum zweiten Punkt – gegen den einen Rechtsstaat gleichsam konstituierenden Gewaltenteilungsgrundsatz, wenn ein Amtsrichter, also ein Angehöriger der Dritten Gewalt, gleichzeitig auch als Hinterbänkler im Gemeinderat sein Dasein fristet und somit auch Angehöriger Exekutive, also der Zweiten Gewalt ist? Sie wissen vermutlich, wer hier gemeint ist… Zunächst: Der Paulskirchen-Nationalversammlung gehörten nach der Revolution 1848/49 zahlreiche Richter und Staatsanwälte an, die Quote betrug 18,8 % – also fast 1/5! Schon Bismarck wünschte sich dann aber eine „absolute, unantastbare und makellose Unparteilichkeit“ von Richtern, deren Anzahl in Parlamenten infolgedessen immer weniger wurde. Aber dennoch: Auch im GG wird an keiner Stelle der parteilose oder gar unpolitische Richter gefordert. Gerechtfertigt wird dies mit dem das GG durchziehenden Grundgedanken der wehrhaften Demokratie und des auch von einem Richter eingeforderten aktiven Eintretens für unseren Staat, wie dies z.B. in § 9 Nr. 2 des DRiG zum Ausdruck kommt, der folgendes fordert: Zum Richter darf nur berufen werden, wer „die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt“. Wie sieht es jetzt mit (m)einer aktiven Tätigkeit als Richter und (m)einem kommunalpolitischen Engagement aus? Dezidiert ausgeschlossen durch das Deutsche Richtergesetz ist lediglich eine aktive richterliche Tätigkeit bei gleichzeitiger Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag oder einem Landesparlament. Und was nicht verboten ist, ist erlaubt – übrigens auch ein Zeichen für einen Rechtsstaat! Also darf ich morgens Urteile verkünden und nachmittags über den Doppelhaushalt der Stadt Freiburg mitabstimmen. Die einzige Grenze, die sich mir stellt, ist die eigene Verantwortung meinem Amt gegenüber. Ich habe mich innerhalb und außerhalb meines Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, daß das Vertrauen in meine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird, wie es § 39 DRiG vorschreibt – der übrigens en passant eine „politische Tätigkeit“ ausdrücklich erlaubt. Mein Engagement als kommunaler Mandatsträger einer Volkspartei, die den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg und den Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland stellt, gelegentliche Grußwörter oder gar das Anstechen von Bierfässern auf Dorffesten gefährden das Vertrauen in meine Unabhängigkeit m.E. nicht. Ich möchte es bei diesen wenigen Gedanken und kleinen Erläuterungen belassen. Ich freue mich sehr, heute hier vor Ihnen sprechen zu dürfen. Sie zeigen durch Ihre Anwesenheit, Ihr teilweise jahrelanges Engagement für diese Initiative, im Bürgerverein, als Ortschafts- oder Gemeinderat, dass Ihnen unsere Demokratie und unser Rechtsstaat am Herzen liegen. Denn es ist zu allererst UNSERE Demokratie, die es gegen Angriffe, ob plump oder subtil vorgetragen zu verteidigen gilt. Ein letztes noch: In Deutschland, besser im deutschen Sprachraum, denn Deutschland gabs damals noch nicht, kann man die Genese des Begriffs „Rechtsstaat“ übrigens recht genau zurückverfolgen. Es war der schwäbische Bibliothekar Johann Wilhelm PLACIDUS, der 1798 Immanuel Kant und dessen Anhänger als „Rechtsstaats-Lehrer“ beschrieb. Placidus hatte seinen recht profanen Nachnamen allerdings latinisiert: Er hieß tatsächlich Johann Wilhelm PETERSEN. Vielen Dank!
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